Re: Medienberichte
von aargrau » So 23. Aug 2009, 12:27
Aargauer Zeitung / MLZ; 22.08.2009; Seite 47
Baden
«Wir arbeiten und zahlen Steuern wie alle andern auch»
Die illegale Wagenburg in Luzern lässt die Stadt verzweifeln. Ein Bewohner kommt aus Menziken
Thomas Hunziker lebt seit über einem Jahr in einem umgebauten Bauwagen mitten in Luzern. Ein Le-ben ohne Luxus - dafür mit jeder Menge politischem Zündstoff.
Katja Schlegel
Thomas Hunziker sitzt in seinem «Wohnzimmer», wie er die mit einer Zeltblache überdeckte Festbankgarnitur liebevoll nennt. Ein schattiges Plätzchen zwischen meterhohen Profilstangen mitten auf einem Kiesplatz hinter dem Luzerner Bahn-hof. An einer Bockleiter hängt frische Wäsche, die im warmen Wind flattert. Auf dem Platz verteilt, stehen zehn umgebaute Bauwagen, dazwischen Töpfe mit Basilikum und Tomatenstauden. So sieht also die berüchtigte Wagenburg aus.
Thomas, warum ziehst du das Leben in einem Bauwagen ohne fliessendes Wasser und ohne Strom einem Leben in einer normalen Wohnung vor?
Thomas Hunziker: Weil es mir gefällt, ganz einfach. Es ist aber nicht so, dass wir ohne Strom und ohne fliessendes Wasser leben wollen. Wir verzichten nicht bewusst darauf, das bringt diese Wohnform teilweise einfach mit sich und ich nehme diesen Verzicht gerne in Kauf. Es sollte in der Schweiz möglich sein, so leben zu können, wie man will. Dafür kämpfe ich.
Wie weit gehst du, um deinen Lebensraum zu verteidigen?
Hunziker: Es geht so weit, dass wir uns unseren Platz einfach nehmen, mit allen Konsequenzen.
Was für Konsequenzen?
Hunziker: Wir wurden jeweils angezeigt. Dann wurde uns gedroht, dass der Platz geräumt und die Wagen abgeschleppt werden.
Die Stadt Luzern hat euch innert eines Jahres zweimal per Gerichtsentscheid verjagt. Warum geht ihr immer bis zum Äussersten?
Hunziker: Die Stadt will partout nicht mit uns reden. Wir würden jeweils sofort gehen, wenn sie nur einmal persönlich mit uns reden würden. Die Behörden sind ausserdem nicht bereit dazu, irgendwelche Kompromisse einzugehen. Sie fühlen sich für unser Anliegen nach einem Wagenplatz nicht verantwortlich und sagen, sie könnten nicht für jede Lebensform oder Lebensvorstellung Raum und Platz bieten.
Wäre es für euch keine Alternative, auf einen Standplatz für Fahrende zu gehen?
Hunziker: Wir sind keine Fahrenden. Die Fahrenden leben nicht in Bauwagen und dürfen nicht länger als drei Monate auf dem Platz stehen. Wir wollen aber an einem Ort bleiben und nicht von Stadt zu Stadt ziehen.
Warum ist die Situation mit der Stadt so verfahren? Eine andere Wagenburg steht bereits seit Jahren in Luzern › ohne ständige Reibereien.
Hunziker: Den Unterschied definiert die Luzerner Baudirektion folgendermassen: Die erste Wagenburg hat eine Anfrage für einen Standplatz eingereicht und die Wagen erst dann auf stadteigenem Gelände platziert. Wir hingegen haben unsere Wagen aufgestellt, ohne vorher zu fragen.
Eigentlich ist es verständlich, dass sich die Stadt wehrt › wenn sich jeder einfach nehmen würde, was er will . . .
Hunziker: Wir nehmen es ja nicht einfach so, wir wollen für den Platz Miete bezahlen.
Was hältst du von Hausbesetzungen?
Ich halte sie für legitim. Ich sehe nicht ein, warum leerer Wohnraum nicht genutzt werden darf.
Mir kommt ein Sprichwort in den Sinn: «De Gschiiter git no, de Esel bliibt stoh.»
Hunziker: Der Gescheitere kann in dieser Sache nicht nachgeben.
Warum nicht?
Hunziker: Wir sind ja ganz klar die Gescheiteren (lacht). Und wir wollen ja, eben weil wir gescheiter sind, Freiräume haben in dieser Stadt. Und für die muss man kämpfen.
Dieser Kampf zwischen Stadt und Wagenburg ist in den innerschweizer Medien präsent. Wie sind die Reaktionen aus der Bevölkerung?
Hunziker: Ich habe das Gefühl, dass die Bevölkerung auf unserer Seite ist. Das spürt man beim Kontakt mit den Leuten.
Wie sieht dieser Kontakt aus?
Hunziker: Wir haben die Nachbarn eingeladen. Auf den beiden Plätzen in Kriens und hier in Luzern sind jeweils 20 bis 30 interessierte Leute gekommen. Eine Nachbarin hat uns schon Kuchen gebracht.
Habt ihr auch schon negative Erfahrungen gemacht?
Hunziker: Ja, am ersten Tag auf dem Platz im Krienser Schlund kam ein merkwürdiger Kerl vorbei. Er hat uns beschimpft und gedroht, die Polizei zu holen. Wir haben ihm gesagt, dass die Polizei längst Bescheid wisse. Aber er hat uns nicht zugehört und noch lange weiter gewettert.
Hast du Angst vor solchen Reaktionen?
Hunziker: Angst nicht. Wenn du Angst hast, könntest du so nicht leben. Aber man muss sich bewusst sein, dass dieses Leben auch gefährlich sein kann.
Wurdet ihr schon angegriffen?
Hunziker: Es ist schon vorgekommen, dass plötzlich Leute ums Gelände schlichen. Passiert ist nichts, aber auf ein Schild am Eingang haben sie einen Davidstern gemalt.
Verstehst du die Aufregung um euch?
Hunziker: Nein. Viele Leute haben das Gefühl, wir seien asoziale Punks, die Lärm und Dreck machen. Und dann staunen sie, wie ruhig wir eigentlich sind und wie wir uns anpassen. Ausserdem arbeiten und bezahlen wir Steuern, wie jeder andere auch.
Trotzdem tanzt ihr aus der Reihe. Seid ihr stolz auf dieses «Anderssein»?
Hunziker: Es ist schon so, dass das ein Gruppengefühl gibt.
Ist diese revolutionäre Art eine Modeerscheinung?
Hunziker: Das ist eine böse Behauptung. Es kann sein, dass gewisse Leute so reinrutschen. Aber das ist ja auch nicht schlimm, wenn es dann von einer Mode zu etwas Ernsthaftem wird. Und wenn es nicht ernsthaft gemeint war, sind sie schnell wieder weg. Für die, die das wirklich leben, ist die Einstellung keine Modeerscheinung.
Ist es nicht mühsam, seinen «abnormalen» Wohnstil immer wieder verteidigen zu müssen?
Hunziker: Man muss sich nur sich selbst gegenüber rechtfertigen. Und ich sehe nicht ein, warum ich mich mit den gegebenen Verhältnissen, dem «normalen» Wohnen, zufrieden geben sollte. Aber die meisten Leute würden gar nicht erst auf die Idee kommen, in einem Bauwagen zu leben.
Vielleicht, weil man seine Komfort-Ansprüche nicht runterschrauben will?
Hunziker: Nein, das kommt ja erst nachher. Erst muss man auf die Idee kommen, dass es noch etwas anderes als die Dreizimmerwohnung für eineinhalbtausend Franken gibt. Hier muss ich nur einen Bruchteil meines Lohnes fürs Wohnen ausgeben und kann den Rest für anderes gebrauchen. Das ist mir wichtig. Ich verstehe nicht, wieso man tausend Franken erarbeiten muss, nur, damit man wohnen kann.
Ginge es dir schlecht, wenn du in einer Wohnung leben müsstest?
Hunziker: Ich bin recht skeptisch gegenüber Wohnungen. Ich konnte mir das nie richtig vorstellen, in einer zu leben.
Was ist daran schlimm, in einer Wohnung zu leben?
Hunziker: Für mich hat das etwas Einengendes. Oben, unten, links und rechts hat es Leute, mit denen du nichts zu tun hast. Vielleicht sogar solche, mit denen du nicht auskommst. Hier lebe ich in der Natur, die Natur ist mein Wohnzimmer. So bist du dem Wetter mehr ausgesetzt und bekommst alles mit. Das ist herrlich.
Apropos Wetter: Wie hast du den Winter überstanden?
Hunziker: Dieser Winter war angenehm, weil es richtig kalt war und nicht matschig. Ausserdem hat jeder Wagen einen eigenen Ofen. Feuert man richtig ein, herrschen Temperaturverhältnisse wie in einer Sauna.
Was sagt deine Mutter dazu, dass du so wohnst?
Hunziker: Sie findet das cool, hat keine Probleme damit. Aber sie bietet mir immer wieder an, bei ihr zu wohnen. Ich biete ihr im Gegenzug an, einen eigenen Wagen zu kaufen und zu mir zu kommen.
Was würdest du machen, wenn du dich in eine Frau verlieben würdest, die selber nicht in einem Bauwagen wohnen möchte?
Hunziker: Dann stelle ich den Wagen bei ihr in den Garten (schmunzelt).
Gibt es ein Luxusgut, auf das du trotz allem nicht verzichten kannst?
Hunziker: Bei dieser Hitze - eine Wasserglace. Aber schlussendlich gibt es nichts, worauf ich nicht verzichten könnte. Oder doch: Mein Recht auf ein Stück Boden.
Illegal wohnen im Aargau
In den grösseren Städten des Kantons Aargau kommt es immer wieder zu Hausbesetzungen › eine andere Form von alternativem Wohnen als es Thomas Hunziker in seinem Bauwagen pflegt.
Der jüngste Fall einer illegalen Hausbesetzung spielte sich vergangenes Wochenende an der Mellingerstrasse in Baden ab, wo eine Gruppe von jungen Männern und Frauen eine leerstehende Kantonsliegenschaft eingenommen hat. Der Eigentümer lehnt eine Zwischennutzung des Abbruchobjekts ab.
In Aarau datiert der jüngste Fall einer Hausbesetzung vom Mai dieses Jahres, wie Stadtpolizeichef Daniel Riniger auf Anfrage sagt. Das Privathaus an der Hohlgasse wurde polizeilich geräumt, schreibt die Gruppe Klaustrophobia auf aargrau.ch. Hier ist weiter die Rede von einem misslungenen Besetzungsversuch am 11. Juli an der Ecke Gönhardweg/Augustin-Keller-Strasse. Klaustrophobia hofft, «dass es in Aarau weitergeht». (trö)
ZUR PERSON
Thomas Hunziker (24) ist in Aarau und Menziken aufgewachsen. Er hat eine Ausbildung als Sozialagoge abgeschlossen. 2006 begleitete er während einer Saison den Zirkus Pipistrello. Damals kaufte er seinen Bauwagen und baute ihn um. 2007 zog er nach Luzern, wo er bis vor kurzem als Moderator bei Radio 3fach arbeitete. Diesen Sommer begleitet er als Betreuer verschiedene Lager für behinderte Erwachsene. (ksc)
DIE GRUPPE «SOUS LE PONT»
Seit Juni 2008 lebt Thomas Hunziker mit der Gruppe «sous le pont» in der Wagenburg. Die sechsköpfige Gruppe wohnte illegal in Luzern und einigen Vororten. Seit April lebt die Gruppe legal auf einem Privatgrundstück in Luzern. Der Mietvertrag wurde jetzt aber gekündigt › die Gruppe sucht nun erneut einen Standplatz. (ksc)
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